Grüne Antworten auf den Brexit: Aufbruch ist die beste Verteidigung

Der Brexit zeigt, wie gefährlich es ist, die EU für nationale Probleme verantwortlich zu machen. Was wir jetzt brauchen, ist Entschlossenheit in der Auseinandersetzung mit Rechtspopulist/innen, ein echtes Investitionsprogramm und mehr Leidenschaft für ein demokratischeres Europa.

Das Ergebnis des Referendums in Großbritannien ist ein trauriger Rückschlag für das Integrations- und Zivilisationsprojekt Europäische Union. Die EU steht nun vor einer extremen Herausforderung und tiefen Krise, deren Ausgang und Verlauf noch in weiten Teilen unklar ist. Eine erste Analyse der Zahlen legt eine extreme Polarisierung und tiefe Gräben der britischen Gesellschaft offen: 51,9 Prozent stimmten für den Austritt. Jedoch stimmten 64 Prozent der Wählerinnen und Wähler zwischen 18 und 24 Jahren für den Verbleib.

Menschen mit einem geringeren Bildungsabschluss haben tendenziell eher für den Austritt gestimmt; 45 Prozent der Menschen mit Universitätsabschluss für den Verbleib. Zwei Drittel derjenigen, die sich vornehmlich als Englisch beschreiben, waren für den Ausstritt (79 Prozent). Schottland hat mit 62 Prozent für den Verbleib gestimmt. In Nordirland haben 54 Prozent der Menschen dafür gestimmt in der EU zu bleiben.

Die Austrittsentscheidung ist einerseits die Konsequenz eines zugespitzten Wahlkampfs, in dem mit Angst – teilweise sogar Hetze – und der Verzerrung von Fakten gearbeitet wurde. Pro-europäische Argumente verfingen andererseits nur selten. Die EU wurde nicht nur für alle möglichen Probleme zum Sündenbock gemacht, sondern als Vehikel für eine polarisierende, nationalistische und chauvinistische Kampagne instrumentalisiert. In vielen anderen EU-Mitgliedsstaaten fallen ähnliche Argumente auf fruchtbaren Boden und EU-Skepsis wird salonfähig.

Wie können nun Grüne Antworten auf das Referendum aussehen?

Entschlossen gegen Rechtspopulist/innen und Nationalist/innen stellen
Mit der hochgerüsteten Sprache, der Hetze und populistischen Argumenten hat die Brexit-Kampagne Rechten in ganz Europa weiteren Auftrieb gegeben. Cameron ist den Populist/innen in Großbritannien jahrelang hinterhergerannt, hat selbst die EU für alle mögliche Übel verantwortlich gemacht und muss nun mit den bitteren Konsequenzen leben. Das zeigt, dass es nicht aufgehen wird, populistische Argumentationen aufzugreifen und ganze politische Diskurse nach rechts zu verschieben.

Der Brexit macht also deutlich: Es ist nicht nur verführerisch für nationale Politiker/innen, die EU für jegliche nationalen Probleme verantwortlich zu machen, es ist auch brandgefährlich. Aus diesen Fehlern sollten nicht nur die Staats- und Regierungschef/innen lernen, sondern alle verantwortungsbewussten Politiker/innen. Blindes EU-Bashing zur innerpolitischen Profilierung ist unverantwortlich und hilft am Ende nur denen, die Separation vor Integration stellen. Politische Kritik sollte ehrlicher und differenzierter formuliert und klargemacht werden, wer der/die wirkliche Adressat/in dieser Kritik ist.

Für uns Grüne ist Teil dieses Streits, klar aufzuzeigen, wo die Europäische Union liefern kann. Denn sie gewinnt dort an Legitimation, wo positive Veränderungen für Unionsbürger/innen spürbar werden.

Ein echtes Investitionsprogramm
Das tragische Problem der Union ist, dass die konkreten Vorteile oft nicht sichtbar sind und immer wieder erklärt werden müssen. Oft erreichen sie auch nur einen gewissen Teil der Bevölkerung. Die ohnehin schon „Abgehängten“ können von Freizügigkeit oder anderen erlebbaren Vorteilen wirtschaftlich nicht genügend profitieren. Die Hetze von Rechtspopulist/innen instrumentalisiert „Verlierer/innen“ der Globalisierung und Modernisierung und baut auf das Gefühl des Abgehängtseins, ohne dass sie eigene Verbesserungen anbieten (müssen). Der Rückzug in das nationale Kämmerlein erscheint damit oft als einfache und nachvollziehbare Lösung.

Die Staats- und Regierungschefs müssen nun aufzeigen, dass die EU auch jetzt lösungsorientiert arbeiten kann und handlungsfähig ist. Denn viel zu oft hat man – auch unter der Regierungspolitik von Angela Merkel – den Eindruck gewinnen können, dass man nicht gewillt sei, gemeinsame Probleme auch gemeinsam lösen zu wollen.

Um das Vertrauen in die EU und ihre Politik zu stärken gibt schon jetzt ganz konkrete Antworten, die wir von europäischere Ebene geben können und sollten: Wir brauchen zum Beispiel ein echtes Investitionsprogramm in die Zukunft der EU und wir sollten eine faire und transparente gemeinsame Steuerpolitik vorantreiben. Hier kann die EU ganz konkret liefern und einen positiven Unterschied für Unionsbürger/innen machen. Um diese Schritte zu gehen, muss es jetzt darum gehen, für andere Mehrheitsverhältnisse in den Mitgliedstaaten zu kämpfen. Das Nicht-Liefern der EU in vielen Fragen ist nicht allein ein strukturelles Problem der Europäischen Union, sondern liegt an den Mehrheitsverhältnissen im Europäischen Rat. Das müssen wir noch deutlich stärker als bisher herausarbeiten und kommunizieren.

Weitere Demokratisierung der Europäischen Union
Es sollte zudem klarer werden, dass die EU nicht nur Frieden und Sicherheit gewährleistet, sondern auch auf dem Versprechen von Wohlstand und Demokratie gründet. Ein soziales Europa sollte daher ein zentraler Bestandteil unserer Antwort auf den Ausgang des Referendums sein. Egal ob in Barcelona, Bielefeld oder Budapest: Die EU ist nicht nur Binnenmarkt, sondern muss stärker zu einem Garanten für mehr Gerechtigkeit und Teilhabe wachsen.

Die Brexiteers haben die EU als undemokratisches Bürokratiemonster beschimpft, dessen Repräsentant/innen allesamt ungewählt sind. Dies spottet zwar der Realität, zeigt aber, dass das Gefühl einer Machtlosigkeit gegenüber europäischen Entscheidungsprozessen grassiert. Wir bleiben daher bei unserer Forderungen, dass es eine weitere Demokratisierung der EU und bessere Strukturen braucht. Wir brauchen eine bessere Repräsentation und eine bessere Einbindung der betroffenen Bürger/innen. Der Angst vor dem „Souveränitätsverlust“ begegnen wir am besten, wenn die EU-Bürger/innen sich im Europäischen Parlament gut vertreten wissen und Entscheidungen nachvollziehen können.

Mehr Leidenschaft für eine andere Politik
Die Stronger-in Kampagne zielte vor allen Dingen auf die Angst vor wirtschaftlichen Unsicherheiten und hohen Kosten eines Austritts. Weitere wirtschaftliche Argumente wie mehr Jobs und geringere Produktionskosten wurden herangezogen. Eine Frage, die wir uns jetzt also stellen müssen: Reicht das? Reicht es, die EU zu verteidigen, indem wir vorrechnen, dass es ohne sie noch schlechter wäre?

Wir glauben: Nein, das ist nicht genug. Es ist längst überfällig, dass wir europäische Debatten mit viel mehr Leidenschaft und Engagement führen.

Als Grüne sind wir davon überzeugt, dass unsere Vorstellung davon, wie Umweltpolitik aussehen sollte, wie wir eine gerechtere Gesellschaft gestalten wollen oder wie wir uns für eine friedlichere Welt einsetzen können, besser auf europäischer Ebene umgesetzt werden kann. Ein Klimaschutzgesetz in Deutschland reicht nicht. Sanktionen gegen Russland von der polnischen Regierung würden zu wenig einen Unterschied machen. Wenn die linke Regierung in Portugal Steuerschlupflöcher schließt, genügt das noch lange nicht um internationalen Firmen ihre Möglichkeiten zur Steuervermeidung zu nehmen. Wer einen Gestaltungsanspruch hat für eine offene, gerechtere, demokratischere Gesellschaft, der muss dafür auf europäischer Ebene streiten.

Dazu müssen wir die politische Auseinandersetzung mit den anderen Parteien und Akteur/innen in den Arenen der europäischen Institutionen suchen. Es gilt, darum zu ringen, wie wir die Europäische Union verändern wollen. Wenn wir es schaffen, die EU-Bürger/innen in diesen Auseinandersetzungen mitzunehmen und sie tatsächlich einzubinden, können wir der um sich greifenden EU-Skepsis etwas entgegensetzen.

Europa, vergiss deine Jugend nicht! Liebe Jugend, vergiss Europa nicht!
Dass vor allem junge Menschen für einen Verbleib in der EU gestimmt haben, ist ein positives Signal und zeigt, dass die Jugend sehr wohl die Vorteile einer EU-Mitgliedschaft sehen. Junge Menschen wollen Teil des Integrationsprojekts sein, sie wollen im europäischen Ausland studieren und lernen, anderen Menschen kennenlernen und Freunde gewinnen, sich neue Sprachen aneignen und vielleicht sogar in einem anderen Land arbeiten. Kurzum: Sie sehen ihre Zukunft in der Europäischen Union und wollen die europäische Idee leben.

Diesen jungen Menschen wollen wir eine europäische Perspektive bieten und sie für ein gemeinsames Europa begeistern. Deshalb müssen wir jetzt schauen, wie es uns gelingen kann, jungen Britinnen und Briten trotz Brexits die Chance auf ein Leben in und Erleben von Europa zu ermöglichen. Die britische Jugend verlässt die EU gegen den eigenen Willen. Sie muss politischer, hör- und sichtbarer werden und nun ihrer Chance im geeinten Europa erkämpfen. Wir wollen dabei ihre Partner/innen sein.

Egal ob es darum geht, die Herzen der Unionsbürger/innen für die EU zu erobern, wir für konkrete politische Veränderungen kämpfen, oder uns den Rechtspopulist/innen und Nationalist/innen entgegen stellen, überall gilt: Aufbruch ist die beste Verteidigung.

Anna Cavazzini und Stephan Bischoff sind die Co-Sprecher/innen der Bundesarbeitsgemeinschaft Europa von Bündnis 90/Die Grünen, Terry Reintke ist Mitglied des Europäischen Parlaments. 

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Es geht um mehr als um Köpfe

 

Diskussionspapier zur Europäisierung der grünen Parteipolitik

 

Ohne Zweifel, es waren im Mai historische EU-Wahlen, die schon jetzt das Machtverhältnis zwischen Rat und Europäischem Parlament verändert haben. Doch nicht nur im innerinstitutionellen Verhältnis haben diese Wahlen Spuren hinterlassen. Auch innerhalb der europäischen Parteienlandschaft hat sich etwas verändert. Es geht hier jedoch nicht um das Erstarken von rechts- und linksradikalen Kräften, Populisten und Eurokritiker, sondern mehr um das Binnenverhältnis innerhalb der wichtigsten europäischen Parteienfamilien.

Die vergangene Legislatur wurde nicht nur durch die Finanz- und Wirtschaftskrise und der Suche nach passenden Antworten darauf geprägt, sondern sie zeigte – trotz des gerade erst in Kraft getretenen Vertrags von Lissabon und seiner neuen Kompetenzzuweisungen – auch die Grenzen bisheriger Diskussions- und Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union. Bestes Beispiel: Wer besitzt eigentlich wirklich die Legitimität über Rettungspakete und an sie geknüpfte Bedingungen zu entscheiden? Das nationale Parlament eines Landes, das als Bürge auftritt? Das Nehmerland? Das Europäische Parlament oder Rat und Kommission oder am Ende alle zusammen? Dies sind aber eben nicht nur institutionelle Fragen, sondern sie berühren auch zutiefst die Arbeit innerhalb der europäischen Parteienfamilien und ihrer nationalen Mitgliedsparteien. Es gibt nicht wenige, auch bei den Grünen, die dies gerne verschweigen.

An dieser Stelle lohnt ein Blick zurück: Es ist gerade einmal zwei Jahre her, dass ein Sonder-Länderrat über das grüne Abstimmungsverhalten über den Fiskalpakt im Bundestag und Bundesrat vor allem auch von der Mehrzahl grüner Europaabgeordneten aus Deutschland initiiert wurde. "Europa" hatte mehrheitlich eine andere Position als die Mehrheit der grünen EntscheiderInnen in "Berlin" oder die grünen Landesregierungen. Der Ausgang ist bekannt: Die damalige, bundespolitische Fraktions- und Parteiführung schlitterte nach einer außerordentlich hart geführten Debatte nur ganz knapp an einer schmerzhaften Niederlage vorbei. Und innerhalb der Europäischen Grünen Partei (EGP) wurde das Thema erst wirklich diskutiert als sich die nationalen Mitgliedsparteien schon positioniert hatten.

Und wie war das noch mal mit den "Green Primaries" zur Findung der grünen EU- SpitzenkandidatInnen? Über Monate hinweg wurde diese Idee und das Prozedere von der Europäischen Grünen Partei entwickelt, in unterschiedlichsten offiziellen und inoffiziellen Runden diskutiert und beschlossen. Und dann wurde plötzlich doch von nicht wenigen grünen Bundes- und LandespolitikerInnen so getan, als seien die "Green Primaries" über Nacht vom Himmel gefallen und ihnen von "Brüssel" aufgezwungen worden. Übrigens kein rein deutsches Phänomen, wenn man sich bspw. den last Minute Ausstieg der österreichischen Grünen anschaut oder manche Diskussion dazu in der Grünen Europafraktion. Die Rolle bzw. Nicht-Rolle der EGP wird dabei mehr als deutlich.

Aber die SpitzenkandidatInnen der europäischen Parteien sollen eine rein grüne Angelegenheit gewesen sein? Falsch! So hatte gerade die deutsche Kanzlerin, die sich doch in der EU angeblich immer durchsetzt, gleich eine dreifache Niederlage erlitten: Erst hatte sie alles getan gegen die Idee von EU-SpitzenkandidatInnen.

Nachdem sie es nicht verhindern konnte, hat sie innerhalb der europäischen Konservativen (EVP) alles getan, um Jean-Claude Juncker zu verhindern. Und nachdem sie auch hier kläglich den Rückzug vor dem entscheidenden EVP-Parteitag antreten musste, weil sie keine Mehrheit für ihre Position sah, versuchte sie es ein letztes Mal, als sie zwei Tage nach der Europawahl Jean-Claude Juncker gemeinsam mit anderen Ratskollegen kalt stellen wollte. Sie scheiterte dabei immer an einer Mehrheitsmeinung innerhalb ihrer europäischen Volkspartei und nicht viel anders war es auch bei den Grünen.

Neben dem Vorstand der Europäischen Grünen Partei, haben auch Vertreter der Vorstände der nationalen grünen Parteien, der europäische Grüne Parteitag (EGP-Council) als auch die große Mehrheit der nationalen Parteien durch Beschlüsse ihren Segen für die Primaries und die Idee der EU-SpitzenkandidatInnen gegeben.

Sowohl im Falle der EVP als auch bei den Grünen haben also demokratische Mehrheiten Beschlüsse gefasst. Und sowohl bei den Konservativen als auch bei den Grünen hatten jeweils politische Schwergewichte keine Kraft dies zu verhindern oder haben es schlicht verpennt, weil sie im Alltag die eigene Partei zwar jeweils gerne als DIE Europapartei feiern, aber ihnen die europäische Mutterpartei im Alltag ziemlich fern, wenn nicht gar egal ist. Warum gerade bei den deutschen Grünen dann grüne FunktionsträgerInnen Journalisten die Munition geliefert haben, mit denen diese die "Green Primaries" und die Idee der EU-SpitzenkandidatInnen pauschal unter Beschuss nahmen, wird ein Rätsel dialektischer Wahlkampfführung bleiben. Aber sie müssen es mit sich selber ausmachen, denn es ist Schnee von gestern.

Die entscheidenden Zukunftsfragen lauten: Wollen wir so weitermachen oder sollten wir nicht besser daraus lernen? Oder zugespitzter: Wann fangen wir an, die sich verschiebenden Machtverhältnisse zwischen der EU- und der Bundesebene auch innerparteilich ernst zu nehmen? Was ist die strukturelle, parteipolitische grüne Antwort auf eine EU, die trotz aller Unkenrufe und Attacken in den vergangenen Jahren einen Kompetenzzuwachs erfahren hat? Und welche stärkeren Rollen sollen zukünftig die grüne Europafraktion und die Europäische Grüne Partei spielen? Und warum tun wir Grüne uns so schwer damit, wo wir doch zu recht bei vielen politischen EU-Entscheidungsprozessen die Brüsseler Ebene stärken wollen?

Das Problem wird sich nicht einfach damit lösen lassen, dass grüne EuropapolitikerInnen nun mehr Raum in der politischen und medialen Debatte in Berlin bekommen oder bei allen Sitzungen auch noch fünf Minuten Rederecht erhalten, sondern nur durch eine strukturelle und mentale Reform. Denn bei allem Verbesserungsbedarf muss auch festgehalten werden, dass in der fachpolitischen Tagesarbeit als auch in vielen grünen Gremien wie dem Parteirat oder der FraktionsvorsitzendInnenkonferenz VertreterInnen der europäischen Ebene die Zusammenarbeit gar nicht so schlecht funktioniert. Es wird aber auch niemand Seriöses ernsthaft bezweifeln, dass es noch erheblichen Verbesserungsbedarf gibt und vor allem neben der fachpolitischen Zusammenarbeit nun auch die innerparteiliche Machtfrage in den Vordergrund rückt.

Was darf, soll oder kann die EGP in Zukunft entscheiden? Wie sollte eigentlich ein Diskussions- und Entscheidungsprozess zwischen EGP, Grüner EP-Fraktion sowie Mitgliedsparteien und nationalen Fraktionen aussehen, wenn es um vergleichbare Fragen wie jenen des Fiskalpakts oder eben jene von grünen EU-SpitzenkandidatInnen geht? Wie erreichen wir eine wirklich strategische Zusammenarbeit zwischen den Spitzen in "Brüssel" und "Berlin"?

Es war daher ein richtiger Schritt des Bundesvorstandes, diese Frage auch als eine Aufgabe der vor einigen Monaten eingesetzten Strukturkommission mitzugeben, auch wenn dies nur ein erster sein kann.

Mit unseren Skizzen wollen wir einen Stein ins Wasser werfen, auf dass er Kreise zieht und zu Diskussionen anregt. Wir erwarten nicht, dass alle alles bedingungslos unterschreiben, aber jede und jeder muss sich bei etwaiger Kritik an einer Frage messen lassen: Wie ernst wollen wir die weitere Demokratisierung der Europäischen Union am eigenen (Partei-)Leibe vorleben ohne unsere Glaubwürdigkeit zu verlieren, wenn wir der europäischer Ebene im Gesetzgebungs- und Entscheidungsprozess an vielen Stellen deutlich mehr Kompetenzen übertragen wollen:

1. Europapolitische Vorausschau und Koordination

Für viele Verbände, Lobbygruppen und öffentliche Institutionen gehören europapolitische Vorausschauen längst zum Alltag. Gerade auf EU-Ebene lässt sich das politische Jahr gut vorplanen durch ritualisierte Jahresabläufe, durch die langwierigen Konsultations- und Entscheidungsprozesse. Auch auf den fachpolitischen Ebenen finden diese Vorausschauen oftmals bereits statt. Was bisher jedoch fehlt sind entsprechende Pendants auf VorsitzendInnenebene. Warum beispielsweise gibt es bis heute keine gemeinsamen Klausuren der VorsitzendInnen von grüner Europafraktion, EGP, grüner Bundestagsfraktion und Bundesvorstand, bei der systematisch ein Ausblick auf die kommenden Monate geworfen und gemeinsame Schwerpunkte gesetzt werden oder auch Konflikte frühzeitig identifiziert und strategisch angegangen werden können? Würde man dies als ein separates Treffen an die ritualisierten Vorstandsklausuren der nationalen Partei- und Fraktionsebene anhängen, dann würde sich der Aufwand in Grenzen halten und es gäbe erstmals eine strategische, vorausschauende Diskussion auf Augenhöhe zwischen den Keyplayern auf nationaler und EU- Ebene.

Warum sind die SprecherInnen der deutschen Delegation der Grünen Abgeordneten im EP nicht in die sogenannten "G-Kamin Runden" von Bundes- und Landesebene eingebunden? Vieles was dort über Bundesratsinitiativen besprochen wird, basiert auf EU-Vorgaben.

2. Kampagnenarbeit

Die gemeinsame Europawahlkampagne der EGP und ihrer Mitgliedsparteien hat gezeigt, dass eine engere Kampagnenarbeit und Öffentlichkeitsarbeit möglich ist, wenn die Kampagne aus flexiblen und modifizierbaren Elementen in einem Baukastenprinzip besteht, wenn sie mit ausreichend zeitlichem Vorlauf vorbereitet wird und vor allem starke webbasierte Elemente beinhaltet. Auf den positiven Erfahrungen und Fehlschlägen sollte nun aufgesetzt werden und pro Jahr mindestens eine gemeinsame Kampagne bzw. ein Schwerpunkt von EGP und Mitgliedsparteien entwickelt werden. Diese sollte möglichst auch formal von europäischer und nationaler Ebene beschlossen werden, damit die nationalen Mitgliedsparteien sich stärker verpflichtet fühlen ihre Teilnahme auch aktive Taten folgen zu lassen.

Ohne den Verantwortlichen vorgreifen zu wollen, könnte sich als ein mögliches erstes Thema eine europaweit koordinierte Kampagnenarbeit zur UN- Klimakonferenz im Herbst 2015 in Paris eignen. Auch bei TTIP oder der Diskussion um einen verbesserten europäischen Datenschutz gäbe es Anknüpfungspunkte.

3. Zusammenarbeit mit anderen nationalen Parteien

Wir wollen kein grünes Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten und doch sollten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN prüfen, inwieweit mit anderen EGP- Mitgliedsparteien beispielhaft die bi- oder trinationale Zusammenarbeit verstärkt werden kann.

Die deutsch-französischen Konsultationen oder die in diesem Jahr zum zweiten Mal veranstaltete Bodenseekonferenz sind gelungene erste Beispiele, und doch reichen jährliche Treffen auf höchster Ebene nicht aus, um wirklich den Anspruch transnationaler Politik erheben zu können.

Es muss vielmehr darum gehen, auch die zweite und dritte Reihe und auch die ReferentInnenebene stärker zu vernetzen und die gegenseitigen Hemmungen abzubauen auch einmal in Brüssel, Paris oder Wien die/den grünen KollegIn anzurufen. Es muss bei dieser Vernetzung aber auch darum gehen, sich nicht einfach einmal nur zu treffen und Europa (und sich selber) zu feiern, sondern sich konkreten tagespolitischen Einzelfragen gemeinsam zu stellen und zu versuchen zu gemeinsamen Positionen zu kommen.

Zum Einen könnte dies über Praktikawochen bei anderen Mitgliedsparteien geschehen, bei der politische EntscheiderInnen oder auch MitarbeiterInnen einmal einen Einblick in die Arbeitsweise und politische Kultur anderer grüner Parteien und Fraktionen auf nationaler und EU-Ebene hautnah kennen zu lernen. Zum Anderen sollten auf Bundes- und Landesebene EU-Zuständigkeiten zwischen Partei und Vorstandsmitgliedern/MitarbeiterInnen in schriftlichen Projektveranwortlichkeiten definiert werden, die eine konkrete Zuständigkeit festschreiben und gleichzeitig auch garantieren, dass dem Vorstandsmitglied oder dem/der MitarbeiterIn dafür auch zeitliche Budgets garantiert werden, die nicht durch andere Tätigkeiten in Frage gestellt werden. Kein einfaches Unterfangen, aber genau hier entscheidet sich eben dann, wie ernst man es denn nun mit dem Anspruch DIE Europapartei zu sein nimmt.

4. Stärkung der Europa- und Bundeskompetenz

Wer viel über Europa redet, der sollte auch mehr über die Entscheidungskompetenzen und Debattenprozesse und Funktionsweise der EU wissen. Noch immer herrschen jedoch viel zu oft die Prinzipien Zufall und "Learning by Doing", wenn politische EntscheidungsträgerInnen oder MitarbeiterInnen auf Bundes- oder Landesebene EU-Debatten bewerten und kommentieren sollen. So ist es mehr als einmal passiert, dass grüne Gliederungen in Deutschland Entscheidungen des Europäischen Parlaments per Pressearbeit kommentiert haben, obwohl die entsprechende Abstimmung kurzfristig verschoben worden war oder man ordnete Verlautbarungen aus "Brüssel" in ihrer Relevanz völlig falsch ein.

Es wäre daher wünschenswert, wenn BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein Fortbildungsprogramm etablieren würden, das die europapolitische Kompetenz auf politischer und Arbeitsebene erhöhen würde. Letztlich wären die Kosten dafür überschaubar und könnte mit GreenCampus als erfahrener, grüner Weiterbildungsakademie sicherlich ein entsprechendes Programm aufgebaut werden. Zudem gibt es beispielsweise auch in der BAG Europa viele Aktive, die aus privaten oder beruflichen Gründen über große europapolitische Kompetenz verfügen und diese gerne teilen.

Analog könnte solch eine Fortbildung auch für politische EntscheidungsträgerInnen und MitarbeiterInnen von europäischer Ebene sinnvoll sein. Wer beispielsweise nie im politischen Berlin gearbeitet hat, der/die ahnt oftmals nur, wie Politik auf Bundesebene tatsächlich funktioniert.

5. Die Rolle der Europäischen Grünen Partei

Die EGP ist nicht mehr dieselbe Partei, die sie am Tag ihrer Gründung im Februar 2004 war. Alleine die gestiegene finanzielle (und damit auch personelle) Ausstattung haben ihr Selbstbewusstsein gestärkt, auch wenn sie vorläufig der "arme Verwandte" der Europafraktion bleiben wird. Aber ist dies auf nationaler Ebene anders? Gerade deswegen sollte die europäische Ebene aber auch daraus lernen und noch enger miteinander kooperieren und Rollenteilungen vornehmen.

Dazu gehört auch eine neue Ernsthaftigkeit gegenüber den Council Meetings der EGP und ihrer Beschlüsse. Es wäre wünschenswert, wenn zukünftig für alle grünen EU-AbgeordnetInnen diese Tagungen eine Art freiwilliger Pflichttermin würden, an denen sie ihr Wissen einbringen und die Debatte und Positionen mitbestimmen. Gleiches gilt auch für manche EGP-Mitgliedspartei und die RepräsentantInnen mancher nationalen, grünen Fraktion, bei denen man den Eindruck gewinnen kann, dass die DelegiertInnennominierung mehr als Incentive- Programm verstanden wird.

Umgekehrt bedarf es einer weiteren Politisierung der Council Meetings. Viel hat sich bereits im Programmablauf zum Positiven getan und doch würden wir uns noch mehr Mut zu politischer Plenumsdebatte und neuer Diskussionsformate wünschen statt so mancher Talkrunde, bei der drei Grüne und ein Gast wieder einmal auf großer Bühne um dieselben Metathemen kreisen.

Das wird zwangsläufig auch mehr Konflikte hervorrufen, gerade zwischen den "größeren" und den "kleineren" Mitgliedsparteien, jenen die über Regierungserfahrung verfügen oder gerade gar regieren und jenen, die diesen Lernprozess noch vor sich haben oder ihn bewusst nicht wollen. Aber das gehört zu Europa nun einmal dazu, so ticken in Deutschland ja auch nicht alle grünen Landesverbände gleich und trotzdem gelingt es zu eindeutigen Entscheidungen auf Bundesdelegiertenkonferenzen zu kommen. Zugegeben, auf EU-Ebene ist dieser Prozess gleichwohl schwieriger, aber ihn zu verweigern kann auch nicht die Lösung sein, wenn man als grüne Parteienfamilie von den Mitbewerbern und Medien ernst genommen werden will.

Bereits 2009 haben wir Grüne auf der BDK Rostock uns zu einem europapolitischen Mainstreaming bekannt und beschlossen: "Europapolitik darf nicht nur alle fünf Jahre vor den Europawahlen ein wichtiges Thema in der Partei sein. Die europäische Perspektive muss in der Partei sowie in den Fraktionen im Bund und in den Ländern stärker verankert werden." Was damals galt, gilt heute umso mehr.

Berlin, Juli 2014

Annalena Baerbock, Bundestagsabgeordnete und Mitglied im Parteirat von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Anna Cavazzini, Co-Sprecherin Bundesarbeitsgemeinschaft Europa von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Manuel Sarrazin, Bundestagsabgeordneter und stellv. Landesvorsitzender von BÜNDNIS 90DIE GRÜNEN LV Hamburg

Michael Scharfschwerdt, Co-Sprecher Bundesarbeitsgemeinschaft Europa von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

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