Für eine solidarische und menschenwürdige europäische Flüchtlingspolitik!

1. Flüchtlingspolitik kann nur europäisch funktionieren

Die dramatischen Ereignisse der Sommermonate haben gezeigt, was viele Expert*innen und wir Grüne schon lange kritisiert haben: Das jetzige Asylsystem in Europa funktioniert nicht. Es wird den Bedürfnissen von Flüchtlingen ebenso wenig gerecht wie den menschenrechtlichen Grundwerten der EU und ihrer Mitgliedsstaaten. Von einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik kann keine Rede sein.

Statt auf europäische Solidarität und gemeinsames Handeln setzen die Staats- und Regierungschef*innen auf nationalen Egoismen. Ob Ungarn sich mit immer mehr Zäunen von seinen europäischen Nachbarn abschottet, Deutschland das Schengener Abkommen aussetzt, die Slowakei gegen die Mehrheitsentscheidung im Rat über die Verteilung von Flüchtlingen klagt oder Großbritannien sich an einer solidarischen Lösung gar nicht beteiligen will – diese Politik befeuert das Auseinanderfallen der europäischen Wertegemeinschaft.

Wir beobachten diese Tendenz mit großer Sorge und stellen uns ihr entschlossen entgegen. Wir sind davon überzeugt, dass es eine gemeinsame europäische Neuausrichtung in der Flüchtlingspolitik braucht. Eine wirkliche Lösung kann nur eine europäische Lösung sein! In diesem Papier machen wir Vorschläge für eine menschenwürdige europäische Flüchtlingspolitik.

2. Sichere Wege nach Europa

2.1 Zusammenarbeit mit Drittstaaten: Unterstützung statt Flüchtlingsabwehr

In der Vergangenheit war die Zusammenarbeit mit Drittstaaten vor allem darauf ausgerichtet, Flüchtlinge von Europa fernzuhalten. Rückübernahmeabkommen wurden mit den Ländern des Mittleren Ostens und Nordafrikas (MENA-Region) getroffen, ungeachtet der Frage, wie demokratisch oder rechtsstaatlich es in diesen Ländern zugeht. Stabilität wurde dabei höher bewertet als die Rechtsrahmen, in die die Menschen zurück geschickt werden. Viel zu lange haben die EU und ihre Mitgliedstaaten mit dem Ziel der Flüchtlingsabwehr mit Staaten und Regimen zusammengearbeitet, die menschenrechtliche Standards massiv verletzt haben. Diese Praktiken stärken undemokratische und autoritäre Regime und sind mit dem Selbstverständnis der EU unvereinbar.

In den aktuellen Verhandlungen mit der Türkei scheinen Bundesregierung und EU erneut dazu bereit, menschenrechtliche und demokratische Standards abzusenken, um Flüchtlinge abzuwehren und schneller wieder abschieben zu können. Diese Praktik lehnen wir entschieden ab! Wir fordern, alle bestehenden Rückübernahmeabkommen kritisch zu überprüfen und auszusetzen, wenn Sicherheit und Menschenrechte in einem Wiederaufnahmeland nicht gewährleistet sind. Stattdessen müssen die europäischen Staaten ihre Expertise zur Verfügung stellen, um auch in Herkunfts-  und Transitländern lokale Administrationen bei der Registrierung und Betreuung von Flüchtlingen zu unterstützen.

Richtig ist der Ansatz, Nachbarstaaten beim Betrieb von Aufnahmeeinrichtungen und (Not-)Unterkünften zu unterstützen. Diese Unterstützung darf aber keineswegs dazu dienen, Flüchtlinge dauerhaft außerhalb der europäischen Grenzen festzuhalten, von wo aus sie umso leichter abgeschoben werden können. Als erste und vorübergehende Notaufnahme sollen sie Flüchtlingen die Sicherheit für eine menschenwürdige und menschenrechtskonforme Aufnahme in die EU gewähren, über mögliche Zielländer informieren und durch die Vergabe humanitärer Visa den Zugang zu einem rechtsstaatlichen Asylverfahren ermöglichen. Von dieser Unterstützung durch die EU profitieren sowohl die Drittstaaten als auch die Flüchtlinge.

Die finanziellen Mittel des UNHCR für die Versorgung und den Aufbau von Flüchtlingslagern sind ausgeschöpft. Um effektiven Flüchtlingsschutz weltweit zu gewährleisten, müssen die Mitgliedstaaten der EU dringend die Finanzmittel des UNHCR aufstocken. Darüber hinaus müssen auch die Mittel für andere internationale und zivilgesellschaftliche Organisationen wie das Welternährungsprogramm deutlich erhöht werden, damit sich die kritische humanitäre Lage in zahlreichen Flüchtlingslagern verbessern kann.

Fehlende legale Zugangsmöglichkeiten und die Strafbarkeit des Grenzübertritts in die EU sind das Geschäftsmodell der Schleuser, von denen die Flüchtlinge aus der Not heraus abhängig sind. Der unsichere und illegale Weg nach Europa führt zu unzähligen toten Flüchtlingen. Das muss ursachenorientiert bekämpft werden. Eine militärische Antwort wie durch EUNAVFOR Med ist keine Lösung und widerspricht eklatant dem Völkerrecht, da Schutzsuchende keine Bedrohung für den Frieden darstellen. Den stufenweisen EUNAVFOR Med-Einsatz vor der libyschen Küste und eine mögliche Ausweitung auf den Balkan lehnen wir ab, da er das Leben von Flüchtlingen zusätzlich gefährdet. Vielmehr braucht es bessere und leichtere legale Zugangsmöglichkeiten in die EU. Dadurch wird Schleusern das Handwerk gelegt und die Flüchtlinge können selbstbestimmt einreisen.

2.2 Legale Einreisewege schaffen und Resettlement ausbauen

Nach wie vor fehlen legale Zugangsmöglichkeiten für Flüchtlinge in die EU und den Schengenraum. De facto ist es daher unmöglich auf einfachem, ungefährlichem Weg Asyl zu beantragen. Vielmehr müssen Menschen auf der Suche nach Schutz vor Verfolgung und Krieg enorme Risiken auf sich nehmen. Um Sterben, Leid und humanitäre Katastrophen auf illegalen Fluchtrouten zu verhindern, die zumeist nur mit Schleppern zu bewältigen sind, brauchen wir mehr legale Zugangsmöglichkeiten in die EU.

Flüchtlingen soll daher ermöglicht werden, in allen Botschaften der EU-Mitgliedstaaten in ihrem Herkunftsland, in Transitländern oder in Erstaufnahmeeinrichtungen in EU-Nachbarstaaten ein humanitäres Visum zu beantragen. So ist eine sichere Einreise in die EU gewährleistet, da anstelle der illegalen und gefährlichen Fluchtrouten, beispielsweise mit untauglichen Booten über das Mittelmeer, der normale Einreiseverkehr genutzt werden kann.

Nicht alle Flüchtlinge werden die Möglichkeit haben ein humanitäres Visum zu beantragen. Auch in diesen Fällen muss ein ungefährlicher und von Schleusern unabhängiger Weg in die EU möglich sein. Fährenbetreiber*innen und Fluglinien dürfen nicht mehr kriminalisiert werden, wenn sie Flüchtlinge ohne Visum befördern. Daher fordern wir, die Richtlinie 2001/51/EG des Rates auszusetzen, die Beförderungsunternehmen mit hohen Geldstrafen droht. Denn es ist nicht Aufgabe von Privaten, Grenzen zu sichern. Damit wird Schleusern, die an der Verzweiflung der Menschen verdienen, die Geschäftsgrundlage entzogen.

Darüber hinaus fordern wir in akuten Krisensituationen, wie aktuell in Syrien, in denen ein Zugang zu Auslandsvertretungen der EU kaum noch gegeben ist, die Visapflicht für Flüchtlinge vorübergehend auszusetzen. Auf diese Weise könnte schutzsuchenden Menschen eine schnelle Ausreise ermöglicht werden. Sobald die Flüchtlinge die EU erreichen, können sie registriert werden und Asyl beantragen. Hierfür muss das europäische Flüchtlingsbüro EASO so ausgebaut werden, dass es in Zusammenarbeit mit dem UNHCR diese Aufgabe insbesondere in den Grenzgebieten der EU übernehmen kann.

Unsere Ideen haben viele Vorteile: Neben der sicheren Einreise für Flüchtlinge können humanitäre Katastrophen vermieden und Schleusern ihrer Geschäftsgrundlagen entzogen werden. Damit müssen sich flüchtende Menschen nicht mehr für die Finanzierung der illegalen Einreise verschulden und können ihren wichtigen materiellen Ressourcen anderweitig einsetzen. Migration kann aufgrund der legalen Einreise und Registrierung besser koordiniert und chaotische Zustände wie zuletzt am Bahnhof Budapest-Keleti oder am Grenzübergang Nickelsdorf vermieden werden.

Die Mitgliedstaaten der EU sollten sich zusätzlich stärker an Resettlement-Programmen beteiligen. Dabei werden besonders schutzbedürftige Flüchtlinge dauerhaft in einem zur Aufnahme bereiten Drittstaat angesiedelt, da der Ersatzufluchtstaat keinen dauerhaft ausreichenden, menschenwürdigen Schutz bietet. Das weltweite, insbesondere auch das europäische Kontingent wird derzeit nicht ausgeschöpft und sollte angesichts von Krisen wie dem syrischen Bürgerkrieg sogar noch erweitert werden. Hierbei fordern wir eine feste jährliche Resettlement-Quote für die EU, sodass der weltweite Bedarf gedeckt werden kann, der sich laut UNHCR für die nächsten 5 Jahre auf 800.000 beläuft.

2.3 Statt Frontex: Auf dem Weg zu einer europäischen Seenotrettung

Spätestens seit der Flüchtlingskatastrophe und dem Tod von mehr als 380 Menschen im Oktober 2014  vor Lampedusa  ist die EU-Agentur Frontex zum Symbol für eine gescheiterte Flüchtlingspolitik der EU und ihrer Mitgliedstaaten geworden, in der zivilgesellschaftliche Organisationen wie „Sea-Watch" anstelle der verantwortlichen Staaten Seenotrettung leisten müssen. Frontex wurde 2004 als Agentur gegründet, um den Schutz der Außengrenzen zu koordinieren, und stellt auch nach den jüngsten Reformen des Mandats und der Begründung der Mission „Triton" in erster Linie weiterhin den Schutz von Grenzen vor den Schutz von Menschen.

Die Mitgliedstaaten bestimmen über den Verwaltungsrat die wesentlichen Leitlinien der Frontex-Arbeit. Als EU-Agentur hat Frontex aber eigene Rechtspersönlichkeit und ist mehr als ein unpolitischer Erfüllungsgehilfe. Die Forderung Frontex in seiner derzeitigen Form abzuschaffen, darf aber nicht zu einem Rückzug auf nationalen Grenzschutz führen. Ein Zurück, bei dem die nationalen Grenzschutzbehörden der 28 Mitgliedstaaten die Zuständigkeit für den Grenz- und Flüchtlingsschutz übernehmen, könnte durch enormem Koordinierungsbedarf der Aufgabe nicht gerecht werden. Ein Neuanfang kann aus unserer Sicht nur auf europäischer Ebene erfolgen.

Frontex muss ersetzt werden durch eine „Europäische Agentur für den Schutz von Flüchtlingen". Diese Agentur hat Rechtspersönlichkeit und steht unter effektiver parlamentarischer Kontrolle durch das Europäische Parlament. Sie verfolgt eine stärker an Menschenrechten ausgerichtete Grenzpolitik, leistet Seenotrettung auf dem Mittelmeer und stellt den Schutz der Menschenrechte von Flüchtlingen an Landesgrenzen zu Drittstaaten sicher.

Nur so kann gewährleistet werden, dass der Schutz von Flüchtlingen nicht von den Mitgliedstaaten auf private Anbieter abgewälzt und gleichzeitig eine flächendeckend Sicherheit auf den Fluchtrouten auf dem Mittelmeer hergestellt wird. Dazu muss das Mandat dieser Agentur strikt zivil ausgelegt sein. Das Einsatzgebiet sollte sich an der italienischen Operation „Mare Nostrum" orientieren und damit Seenotrettung sowohl auf hoher See ermöglich wie auch in Hoheitsgewässern von Drittstaaten. Die Mitgliedstaaten müssen zudem eine organisatorisch und materiell angemessene Ausstattung der Agentur sicherstellen.

3. Für ein neues europäisches Asylsystem

3.1 Europäische Asylstandards müssen eingehalten werden

Die Bilder der menschenunwürdigen „Fütterung" von Flüchtlingen in Ungarn haben viele Menschen schockiert: Wie ist so etwas in der EU möglich? Auf dem Papier gibt es gemeinsame Asylstandards in der EU. Nur spiegeln diese häufig nur den kleinsten gemeinsamen Nenner wider und lassen den Mitgliedsstaaten außerdem viele Schlupflöcher. Das hat unter anderem zur Folge, dass die Anerkennungsquoten von Mitgliedsstaat zu Mitgliedstaat stark variieren und es für Flüchtlinge einer Lotterie gleich kommt, ob sie in der EU Asyl bekommen. Menschenunwürdige Lebensbedingungen oder unzumutbare lange Asylverfahren in einem Land führen dazu, dass Flüchtlinge in andere Länder weiterreisen wollen.

Wir fordern deshalb hohe europaweit einheitliche Standards für Asylverfahren mit einer Höchstdauer von drei Monaten, für die Lebensbedingungen der Flüchtlinge und für weit gefasste Anerkennungskriterien. Die letzte Reform der entsprechenden Richtlinien 2013 geht uns nicht weit genug. Wir wollen mit einer Reform der Aufnahmerichtlinie erreichen, dass die ohnehin völkerrechtswidrige Möglichkeit Flüchtlinge wegzusperren abgeschafft wird. Wir fordern, dass Flüchtlinge in allen Mitgliedsstaaten mindestens Unterstützung im Rahmen eines menschenwürdigen Existenzminimums und ab dem ersten Tag in der EU eine Arbeitserlaubnis erhalten. Die soziale Mindestsicherung für Flüchtlinge muss nach oben angepasst werden. Die strafbewährte Residenzpflicht in Deutschland, die auch die Chancen auf einen Job stark einschränkt, muss abgeschafft werden. Schlupflöcher und Ausnahmeregeln müssen geschlossen und die Umsetzung viel stärker als bisher überwacht werden.

3.2 Statt Dublin: Wahlfreiheit für Flüchtlinge und europäische Solidarität

Die Dublin-Regelung, wonach das Asylverfahren am Ort des Ersteintritts durchgeführt wird, hat zu einem Verschiebebahnhof für Flüchtlinge geführt. Das Dublin-System orientiert sich nicht an den Bedürfnissen der Flüchtlinge. Stattdessen steht besonders das Interesse der Mitgliedstaaten im Zentrum Europas im Fokus. Die Staaten an Europas Peripherie, vor allem Griechenland, Italien und Ungarn, sind von der Vielzahl ankommender Flüchtlinge stark beansprucht. Die Situation für Flüchtlinge in diesen Ländern ist ein Skandal und beschämend für die anderen Mitgliedsstaaten der EU. Natürlich könnten und müssten diese Länder mehr für akzeptable Bedingungen tun - ebenso sind aber Deutschland und die Staaten im Zentrum der EU gefordert, sich im Sinne europäischer Solidarität für ein gerechteres System einzusetzen.

Faktisch ist Dublin längst gescheitert: Europäische Gerichte untersagen die Rücküberstellung in Staaten, in denen die Bedingungen besonders miserabel sind. Peripheriestaaten unterlassen die Erstregistrierung der Flüchtlinge. In Deutschland kommen Behörden und Gerichte angesichts der Vielzahl von Dublin-Verfahren an die Grenzen der Belastbarkeit. Die viel entscheidenderen Asylverfahren dauern viel zu lange. Das sichtbarste Zeichen dieser Überforderung ist die begrüßenswerte Aussetzung der Dublin-Rückschiebung für syrische Flüchtlinge. Ein Umsteuern ist also dringend erforderlich!

Wir brauchen ein neues europäisches Asylsystem, das sich an den Interessen der Flüchtlinge orientiert. Menschen dürfen nicht an einen Ort gezwungen werden! Voraussetzung für ein solches System ist die Durchsetzung der gemeinsamen europäischen Asylstandards. So wird verhindert, dass Staaten Flüchtlinge durch schlechte Standards beispielsweise bei der Unterbringung, einer unsäglich langen Verfahrensdauer oder unterschiedlichen Anerkennungsquoten abschrecken können. Die Mitgliedsstaaten dürfen die Aufnahme von Flüchtlingen nicht verweigern. Um ein neues europäisches Asylsystem durchzusetzen, muss die die Europäische Kommission die Möglichkeit häufiger nutzen, Staaten bei Verstößen gegen eine solidarische Regelung gegebenenfalls im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahren zu sanktionieren.

Ein neuer, für alle Mitgliedstaaten verbindlicher Schlüssel für die Erstaufnahme muss als oberstes Kriterium die Wahl der Flüchtlinge berücksichtigen. Sprachkenntnisse, Familienzusammenführung oder Chancen auf dem Arbeitsmarkt können Gründe für die Entscheidung der Flüchtlinge für einen bestimmten Mitgliedsstaat sein. Wählt eine größere Anzahl von Flüchtlingen als nach dem Schlüssel berechnet einen bestimmten Mitgliedsstaat als Ort für die Erstaufnahme, so greift eine solidarische finanzielle Unterstützung durch die anderen Mitgliedsstaaten. Dieser finanzielle Ausgleich muss über einen Fonds so ausgestaltet sein, dass sich Mitgliedsstaaten nicht aus ihrer Verpflichtung Flüchtlinge aufzunehmen freikaufen können und keine Konkurrenz entsteht. Um auf Akzeptanz bei den Mitgliedsstaaten der EU zu stoßen muss er sich an Wirtschaftskraft und Bevölkerungsgröße orientieren. So wird der Aufwand der Asylverfahren, die Kosten für Unterbringung oder Integrationsangebote solidarisch unter den Staaten der EU geteilt.

Von einem neuen europäischen Asylsystem profitieren auch die Aufnahmestaaten, denn Flüchtlinge, die ihren Aufenthaltsort frei wählen können, leben sich schneller ein, die Sekundärmigration nimmt ab und der absurde administrative Aufwand des Dublin-Systems entfällt. Bei Anerkennung der Flüchtlinge gilt für sie die europäische Personenfreizügigkeit. Wir fordern die Bundesregierung auf, diesen Prozess voran zu treiben und sich auf europäischer Ebene für eine neue Regelung einzusetzen.

Für ein neues Asylsystem müssen alle Mitgliedstaaten bereit sein, deutlich mehr Flüchtlinge aufzunehmen als bisher. Doch gerade an dieser grundsätzlichen Solidarität unter den Mitgliedsstaaten hapert es derzeit gewaltig, wie etwa die Abstimmung im Ministerrat über die Verteilung von 120.000 Flüchtlingen Ende September gezeigt hat. Alle Regierungschef*innen sollten sich im Klaren sein, dass einer  europäischen Herausforderung nur mit einer europäischen Lösung begegnet werden kann. Wir brauchen den politischen Willen, um unserem humanitären Anspruch gerecht zu werden!

Das Europäische Parlament fordert bereits seit Jahren einen neuen Verteilungsschlüssel und hat sich bei der Verteilung der 40.000 Flüchtlinge dafür starkgemacht, dass deren Interessen berücksichtigt werden. Die Staats- und Regierungschef*innen haben mit der bereits angesprochenen Entscheidung zur Aufnahme von 120.000 Flüchtlingen einen ersten Schritt getan, dem aber weitere folgen müssen. Das Europäische Parlament hat bisher gezeigt, dass bei der Suche nach solidarischen Lösungen als Verbündeter zur Seite stehen kann.

3.3 Statt "sicherer Herkunftsstaaten" mehr Engagement im Grundrechtsschutz

Die Allgemeine Erklärung der Menschrechte spricht jedem und jeder ein individuelles Recht auf Asyl zu, das nicht durch pauschale Regelungen eingeschränkt werden darf. Daher lehnen wir das Konzept und die neue europaweite Liste „sicherer Herkunftsstaaten" ab. Es ist ein rassistisches, diskriminierendes und willkürliches Instrument deutscher und europäischer Flüchtlingspolitik und widerspricht dem Recht auf Asyl. Das Recht auf Schutz vor Verfolgung wegen Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen politischer Überzeugung darf vermeintlich hohen Verwaltungsaufwänden nicht zum Opfer fallen.

Viele sogenannte sichere Herkunftsländer befinden sich im Beitrittsprozess zur EU. Doch der potentielle Beitritt zur EU macht ein Land nicht automatisch sicher. Wenn ein Mangel an demokratischen Institutionen, Presse- und Meinungsfreiheit oder beim Menschenrechts- und Minderheitenschutz besteht, ist es zynisch sie pauschal als sicher für alle einzustufen. Insbesondere Minderheiten wie Sinti und Roma sind in vielen vermeintlich sicheren Staaten Diskriminierung und rassistischer Verfolgung ausgesetzt.

Statt das individuelle Asylrecht durch Scheinlösungen weiter aufzulösen, muss der Grundrechtsschutz und die wirtschaftliche Entwicklung in diesen Ländern gestärkt und gefördert werden. Nur so erreicht man, dass Menschen ihre Heimat nicht verlassen und Schutz in anderen Ländern suchen müssen. Die EU muss hier gerade auf dem Westbalkan und der Türkei ihr Engagement deutlich erhöhen.

3.4 Illegalisierte in Europa

Mit der Schaffung legaler Zugangsmöglichkeiten in die Europäische Union kann die Anzahl von Menschen, die sich illegal in der EU aufhalten drastisch reduziert werden. Eine Verteilung der Geflüchteten innerhalb der EU, welche deren Bedürfnisse bei der Wahl des Aufnahmelandes berücksichtigt, verhindert "illegale Sekundärmigration", die bei einer den Geflüchteten zugestandenen Personenfreizügigkeit ganz entfallen würde.

Menschen, die sich "illegal" in der EU aufhalten, sollte eine Perspektive geboten werden. Ziel sollte die Integration in legale Strukturen sein. Die bestehenden Regelungen des Asyl- und Aufenthaltsrecht bieten keine Perspektiven für die meisten dieser Menschen. Die Härtefallkommissionen leisten zwar vielerorts eine großartige Arbeit, doch sind sie auf Einzelfälle zugeschnitten. Hinzu kommt, dass die Entscheidung über einen Härtefall letztendlich den Innenministern obliegt und nicht der gerichtlichen Kontrolle zugänglich ist. Deshalb brauchen wir in Deutschland endlich Legalisierungsprogramme. Bei deren Entwicklung kann auf die Erfahrungen aus anderen Staaten (Spanien, Frankreich, USA) zurückgegriffen werden. Denkbar wäre etwa eine Erweiterung der bestehenden Bleiberechtsregelungen – die bislang nur Geduldete betreffen – auf Menschen ohne Papiere.

Menschen ohne Papiere müssen sich europaweit zur Finanzierung ihres Lebensunterhalts häufig in ausbeuterische Abhängigkeitsverhältnisse begeben. Sie haben in vielen Ländern, gerade auch in Deutschland, keinen Zugang zum Gesundheitssystem und  werden auch darüber hinaus faktisch entrechtet, da sie sich aus Angst vor Entdeckung nicht an offizielle Stellen   wenden können. Grundrechte stehen aber allen Menschen zu, gleichviel an welchem Ort sie sich mit welchem rechtlichen Status aufhalten.

Die dafür notwendigen Anlaufstellen wie Beratungen, Krankenhäuser, Notunterkünfte und dergleichen sollten zu diesem Zweck europaweit unterstützt werden. In Deutschland würde zudem die Aufhebung der Übermittlungspflicht nach §87 des Aufenthaltsgesetzes für alle öffentlichen Institutionen mit Ausnahme von Polizei- und Ordnungsbehörden und den öffentlichen Stellen mit der Aufgabe der Strafverfolgung und -vollstreckung eine schnelle Verbesserung der Lebensbedingungen bedeuten. Außerdem sollte Rechtssicherheit hinsichtlich der Strafbarkeit wegen Beihilfe geschaffen und europaweit eine Entkriminalisierung der Helfer durchgesetzt wird.

 

Zusammenfassung

Wir fordern:

  • Keine Rückübernahmeabkommen mit Drittstaaten, wenn Menschenrechte und Sicherheit der Flüchtlinge im Wiederaufnahmeland nicht gewährleistet sind.
  • Die Schaffung legaler Einreisewege und einen Ausbau von Ressetlement-Programmen.
  • Eine vom Europäischen Parlament kontrollierte europäische Seenotrettung und an den Menschenrechten ausgerichtete Grenzpolitik.
  • Eine solidarische Verteilung von Flüchtlingen in Europa, die die Interessen der Flüchtlinge in den Mittelpunkt stellt.



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Es geht um mehr als um Köpfe

 

Diskussionspapier zur Europäisierung der grünen Parteipolitik

 

Ohne Zweifel, es waren im Mai historische EU-Wahlen, die schon jetzt das Machtverhältnis zwischen Rat und Europäischem Parlament verändert haben. Doch nicht nur im innerinstitutionellen Verhältnis haben diese Wahlen Spuren hinterlassen. Auch innerhalb der europäischen Parteienlandschaft hat sich etwas verändert. Es geht hier jedoch nicht um das Erstarken von rechts- und linksradikalen Kräften, Populisten und Eurokritiker, sondern mehr um das Binnenverhältnis innerhalb der wichtigsten europäischen Parteienfamilien.

Die vergangene Legislatur wurde nicht nur durch die Finanz- und Wirtschaftskrise und der Suche nach passenden Antworten darauf geprägt, sondern sie zeigte – trotz des gerade erst in Kraft getretenen Vertrags von Lissabon und seiner neuen Kompetenzzuweisungen – auch die Grenzen bisheriger Diskussions- und Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union. Bestes Beispiel: Wer besitzt eigentlich wirklich die Legitimität über Rettungspakete und an sie geknüpfte Bedingungen zu entscheiden? Das nationale Parlament eines Landes, das als Bürge auftritt? Das Nehmerland? Das Europäische Parlament oder Rat und Kommission oder am Ende alle zusammen? Dies sind aber eben nicht nur institutionelle Fragen, sondern sie berühren auch zutiefst die Arbeit innerhalb der europäischen Parteienfamilien und ihrer nationalen Mitgliedsparteien. Es gibt nicht wenige, auch bei den Grünen, die dies gerne verschweigen.

An dieser Stelle lohnt ein Blick zurück: Es ist gerade einmal zwei Jahre her, dass ein Sonder-Länderrat über das grüne Abstimmungsverhalten über den Fiskalpakt im Bundestag und Bundesrat vor allem auch von der Mehrzahl grüner Europaabgeordneten aus Deutschland initiiert wurde. "Europa" hatte mehrheitlich eine andere Position als die Mehrheit der grünen EntscheiderInnen in "Berlin" oder die grünen Landesregierungen. Der Ausgang ist bekannt: Die damalige, bundespolitische Fraktions- und Parteiführung schlitterte nach einer außerordentlich hart geführten Debatte nur ganz knapp an einer schmerzhaften Niederlage vorbei. Und innerhalb der Europäischen Grünen Partei (EGP) wurde das Thema erst wirklich diskutiert als sich die nationalen Mitgliedsparteien schon positioniert hatten.

Und wie war das noch mal mit den "Green Primaries" zur Findung der grünen EU- SpitzenkandidatInnen? Über Monate hinweg wurde diese Idee und das Prozedere von der Europäischen Grünen Partei entwickelt, in unterschiedlichsten offiziellen und inoffiziellen Runden diskutiert und beschlossen. Und dann wurde plötzlich doch von nicht wenigen grünen Bundes- und LandespolitikerInnen so getan, als seien die "Green Primaries" über Nacht vom Himmel gefallen und ihnen von "Brüssel" aufgezwungen worden. Übrigens kein rein deutsches Phänomen, wenn man sich bspw. den last Minute Ausstieg der österreichischen Grünen anschaut oder manche Diskussion dazu in der Grünen Europafraktion. Die Rolle bzw. Nicht-Rolle der EGP wird dabei mehr als deutlich.

Aber die SpitzenkandidatInnen der europäischen Parteien sollen eine rein grüne Angelegenheit gewesen sein? Falsch! So hatte gerade die deutsche Kanzlerin, die sich doch in der EU angeblich immer durchsetzt, gleich eine dreifache Niederlage erlitten: Erst hatte sie alles getan gegen die Idee von EU-SpitzenkandidatInnen.

Nachdem sie es nicht verhindern konnte, hat sie innerhalb der europäischen Konservativen (EVP) alles getan, um Jean-Claude Juncker zu verhindern. Und nachdem sie auch hier kläglich den Rückzug vor dem entscheidenden EVP-Parteitag antreten musste, weil sie keine Mehrheit für ihre Position sah, versuchte sie es ein letztes Mal, als sie zwei Tage nach der Europawahl Jean-Claude Juncker gemeinsam mit anderen Ratskollegen kalt stellen wollte. Sie scheiterte dabei immer an einer Mehrheitsmeinung innerhalb ihrer europäischen Volkspartei und nicht viel anders war es auch bei den Grünen.

Neben dem Vorstand der Europäischen Grünen Partei, haben auch Vertreter der Vorstände der nationalen grünen Parteien, der europäische Grüne Parteitag (EGP-Council) als auch die große Mehrheit der nationalen Parteien durch Beschlüsse ihren Segen für die Primaries und die Idee der EU-SpitzenkandidatInnen gegeben.

Sowohl im Falle der EVP als auch bei den Grünen haben also demokratische Mehrheiten Beschlüsse gefasst. Und sowohl bei den Konservativen als auch bei den Grünen hatten jeweils politische Schwergewichte keine Kraft dies zu verhindern oder haben es schlicht verpennt, weil sie im Alltag die eigene Partei zwar jeweils gerne als DIE Europapartei feiern, aber ihnen die europäische Mutterpartei im Alltag ziemlich fern, wenn nicht gar egal ist. Warum gerade bei den deutschen Grünen dann grüne FunktionsträgerInnen Journalisten die Munition geliefert haben, mit denen diese die "Green Primaries" und die Idee der EU-SpitzenkandidatInnen pauschal unter Beschuss nahmen, wird ein Rätsel dialektischer Wahlkampfführung bleiben. Aber sie müssen es mit sich selber ausmachen, denn es ist Schnee von gestern.

Die entscheidenden Zukunftsfragen lauten: Wollen wir so weitermachen oder sollten wir nicht besser daraus lernen? Oder zugespitzter: Wann fangen wir an, die sich verschiebenden Machtverhältnisse zwischen der EU- und der Bundesebene auch innerparteilich ernst zu nehmen? Was ist die strukturelle, parteipolitische grüne Antwort auf eine EU, die trotz aller Unkenrufe und Attacken in den vergangenen Jahren einen Kompetenzzuwachs erfahren hat? Und welche stärkeren Rollen sollen zukünftig die grüne Europafraktion und die Europäische Grüne Partei spielen? Und warum tun wir Grüne uns so schwer damit, wo wir doch zu recht bei vielen politischen EU-Entscheidungsprozessen die Brüsseler Ebene stärken wollen?

Das Problem wird sich nicht einfach damit lösen lassen, dass grüne EuropapolitikerInnen nun mehr Raum in der politischen und medialen Debatte in Berlin bekommen oder bei allen Sitzungen auch noch fünf Minuten Rederecht erhalten, sondern nur durch eine strukturelle und mentale Reform. Denn bei allem Verbesserungsbedarf muss auch festgehalten werden, dass in der fachpolitischen Tagesarbeit als auch in vielen grünen Gremien wie dem Parteirat oder der FraktionsvorsitzendInnenkonferenz VertreterInnen der europäischen Ebene die Zusammenarbeit gar nicht so schlecht funktioniert. Es wird aber auch niemand Seriöses ernsthaft bezweifeln, dass es noch erheblichen Verbesserungsbedarf gibt und vor allem neben der fachpolitischen Zusammenarbeit nun auch die innerparteiliche Machtfrage in den Vordergrund rückt.

Was darf, soll oder kann die EGP in Zukunft entscheiden? Wie sollte eigentlich ein Diskussions- und Entscheidungsprozess zwischen EGP, Grüner EP-Fraktion sowie Mitgliedsparteien und nationalen Fraktionen aussehen, wenn es um vergleichbare Fragen wie jenen des Fiskalpakts oder eben jene von grünen EU-SpitzenkandidatInnen geht? Wie erreichen wir eine wirklich strategische Zusammenarbeit zwischen den Spitzen in "Brüssel" und "Berlin"?

Es war daher ein richtiger Schritt des Bundesvorstandes, diese Frage auch als eine Aufgabe der vor einigen Monaten eingesetzten Strukturkommission mitzugeben, auch wenn dies nur ein erster sein kann.

Mit unseren Skizzen wollen wir einen Stein ins Wasser werfen, auf dass er Kreise zieht und zu Diskussionen anregt. Wir erwarten nicht, dass alle alles bedingungslos unterschreiben, aber jede und jeder muss sich bei etwaiger Kritik an einer Frage messen lassen: Wie ernst wollen wir die weitere Demokratisierung der Europäischen Union am eigenen (Partei-)Leibe vorleben ohne unsere Glaubwürdigkeit zu verlieren, wenn wir der europäischer Ebene im Gesetzgebungs- und Entscheidungsprozess an vielen Stellen deutlich mehr Kompetenzen übertragen wollen:

1. Europapolitische Vorausschau und Koordination

Für viele Verbände, Lobbygruppen und öffentliche Institutionen gehören europapolitische Vorausschauen längst zum Alltag. Gerade auf EU-Ebene lässt sich das politische Jahr gut vorplanen durch ritualisierte Jahresabläufe, durch die langwierigen Konsultations- und Entscheidungsprozesse. Auch auf den fachpolitischen Ebenen finden diese Vorausschauen oftmals bereits statt. Was bisher jedoch fehlt sind entsprechende Pendants auf VorsitzendInnenebene. Warum beispielsweise gibt es bis heute keine gemeinsamen Klausuren der VorsitzendInnen von grüner Europafraktion, EGP, grüner Bundestagsfraktion und Bundesvorstand, bei der systematisch ein Ausblick auf die kommenden Monate geworfen und gemeinsame Schwerpunkte gesetzt werden oder auch Konflikte frühzeitig identifiziert und strategisch angegangen werden können? Würde man dies als ein separates Treffen an die ritualisierten Vorstandsklausuren der nationalen Partei- und Fraktionsebene anhängen, dann würde sich der Aufwand in Grenzen halten und es gäbe erstmals eine strategische, vorausschauende Diskussion auf Augenhöhe zwischen den Keyplayern auf nationaler und EU- Ebene.

Warum sind die SprecherInnen der deutschen Delegation der Grünen Abgeordneten im EP nicht in die sogenannten "G-Kamin Runden" von Bundes- und Landesebene eingebunden? Vieles was dort über Bundesratsinitiativen besprochen wird, basiert auf EU-Vorgaben.

2. Kampagnenarbeit

Die gemeinsame Europawahlkampagne der EGP und ihrer Mitgliedsparteien hat gezeigt, dass eine engere Kampagnenarbeit und Öffentlichkeitsarbeit möglich ist, wenn die Kampagne aus flexiblen und modifizierbaren Elementen in einem Baukastenprinzip besteht, wenn sie mit ausreichend zeitlichem Vorlauf vorbereitet wird und vor allem starke webbasierte Elemente beinhaltet. Auf den positiven Erfahrungen und Fehlschlägen sollte nun aufgesetzt werden und pro Jahr mindestens eine gemeinsame Kampagne bzw. ein Schwerpunkt von EGP und Mitgliedsparteien entwickelt werden. Diese sollte möglichst auch formal von europäischer und nationaler Ebene beschlossen werden, damit die nationalen Mitgliedsparteien sich stärker verpflichtet fühlen ihre Teilnahme auch aktive Taten folgen zu lassen.

Ohne den Verantwortlichen vorgreifen zu wollen, könnte sich als ein mögliches erstes Thema eine europaweit koordinierte Kampagnenarbeit zur UN- Klimakonferenz im Herbst 2015 in Paris eignen. Auch bei TTIP oder der Diskussion um einen verbesserten europäischen Datenschutz gäbe es Anknüpfungspunkte.

3. Zusammenarbeit mit anderen nationalen Parteien

Wir wollen kein grünes Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten und doch sollten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN prüfen, inwieweit mit anderen EGP- Mitgliedsparteien beispielhaft die bi- oder trinationale Zusammenarbeit verstärkt werden kann.

Die deutsch-französischen Konsultationen oder die in diesem Jahr zum zweiten Mal veranstaltete Bodenseekonferenz sind gelungene erste Beispiele, und doch reichen jährliche Treffen auf höchster Ebene nicht aus, um wirklich den Anspruch transnationaler Politik erheben zu können.

Es muss vielmehr darum gehen, auch die zweite und dritte Reihe und auch die ReferentInnenebene stärker zu vernetzen und die gegenseitigen Hemmungen abzubauen auch einmal in Brüssel, Paris oder Wien die/den grünen KollegIn anzurufen. Es muss bei dieser Vernetzung aber auch darum gehen, sich nicht einfach einmal nur zu treffen und Europa (und sich selber) zu feiern, sondern sich konkreten tagespolitischen Einzelfragen gemeinsam zu stellen und zu versuchen zu gemeinsamen Positionen zu kommen.

Zum Einen könnte dies über Praktikawochen bei anderen Mitgliedsparteien geschehen, bei der politische EntscheiderInnen oder auch MitarbeiterInnen einmal einen Einblick in die Arbeitsweise und politische Kultur anderer grüner Parteien und Fraktionen auf nationaler und EU-Ebene hautnah kennen zu lernen. Zum Anderen sollten auf Bundes- und Landesebene EU-Zuständigkeiten zwischen Partei und Vorstandsmitgliedern/MitarbeiterInnen in schriftlichen Projektveranwortlichkeiten definiert werden, die eine konkrete Zuständigkeit festschreiben und gleichzeitig auch garantieren, dass dem Vorstandsmitglied oder dem/der MitarbeiterIn dafür auch zeitliche Budgets garantiert werden, die nicht durch andere Tätigkeiten in Frage gestellt werden. Kein einfaches Unterfangen, aber genau hier entscheidet sich eben dann, wie ernst man es denn nun mit dem Anspruch DIE Europapartei zu sein nimmt.

4. Stärkung der Europa- und Bundeskompetenz

Wer viel über Europa redet, der sollte auch mehr über die Entscheidungskompetenzen und Debattenprozesse und Funktionsweise der EU wissen. Noch immer herrschen jedoch viel zu oft die Prinzipien Zufall und "Learning by Doing", wenn politische EntscheidungsträgerInnen oder MitarbeiterInnen auf Bundes- oder Landesebene EU-Debatten bewerten und kommentieren sollen. So ist es mehr als einmal passiert, dass grüne Gliederungen in Deutschland Entscheidungen des Europäischen Parlaments per Pressearbeit kommentiert haben, obwohl die entsprechende Abstimmung kurzfristig verschoben worden war oder man ordnete Verlautbarungen aus "Brüssel" in ihrer Relevanz völlig falsch ein.

Es wäre daher wünschenswert, wenn BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein Fortbildungsprogramm etablieren würden, das die europapolitische Kompetenz auf politischer und Arbeitsebene erhöhen würde. Letztlich wären die Kosten dafür überschaubar und könnte mit GreenCampus als erfahrener, grüner Weiterbildungsakademie sicherlich ein entsprechendes Programm aufgebaut werden. Zudem gibt es beispielsweise auch in der BAG Europa viele Aktive, die aus privaten oder beruflichen Gründen über große europapolitische Kompetenz verfügen und diese gerne teilen.

Analog könnte solch eine Fortbildung auch für politische EntscheidungsträgerInnen und MitarbeiterInnen von europäischer Ebene sinnvoll sein. Wer beispielsweise nie im politischen Berlin gearbeitet hat, der/die ahnt oftmals nur, wie Politik auf Bundesebene tatsächlich funktioniert.

5. Die Rolle der Europäischen Grünen Partei

Die EGP ist nicht mehr dieselbe Partei, die sie am Tag ihrer Gründung im Februar 2004 war. Alleine die gestiegene finanzielle (und damit auch personelle) Ausstattung haben ihr Selbstbewusstsein gestärkt, auch wenn sie vorläufig der "arme Verwandte" der Europafraktion bleiben wird. Aber ist dies auf nationaler Ebene anders? Gerade deswegen sollte die europäische Ebene aber auch daraus lernen und noch enger miteinander kooperieren und Rollenteilungen vornehmen.

Dazu gehört auch eine neue Ernsthaftigkeit gegenüber den Council Meetings der EGP und ihrer Beschlüsse. Es wäre wünschenswert, wenn zukünftig für alle grünen EU-AbgeordnetInnen diese Tagungen eine Art freiwilliger Pflichttermin würden, an denen sie ihr Wissen einbringen und die Debatte und Positionen mitbestimmen. Gleiches gilt auch für manche EGP-Mitgliedspartei und die RepräsentantInnen mancher nationalen, grünen Fraktion, bei denen man den Eindruck gewinnen kann, dass die DelegiertInnennominierung mehr als Incentive- Programm verstanden wird.

Umgekehrt bedarf es einer weiteren Politisierung der Council Meetings. Viel hat sich bereits im Programmablauf zum Positiven getan und doch würden wir uns noch mehr Mut zu politischer Plenumsdebatte und neuer Diskussionsformate wünschen statt so mancher Talkrunde, bei der drei Grüne und ein Gast wieder einmal auf großer Bühne um dieselben Metathemen kreisen.

Das wird zwangsläufig auch mehr Konflikte hervorrufen, gerade zwischen den "größeren" und den "kleineren" Mitgliedsparteien, jenen die über Regierungserfahrung verfügen oder gerade gar regieren und jenen, die diesen Lernprozess noch vor sich haben oder ihn bewusst nicht wollen. Aber das gehört zu Europa nun einmal dazu, so ticken in Deutschland ja auch nicht alle grünen Landesverbände gleich und trotzdem gelingt es zu eindeutigen Entscheidungen auf Bundesdelegiertenkonferenzen zu kommen. Zugegeben, auf EU-Ebene ist dieser Prozess gleichwohl schwieriger, aber ihn zu verweigern kann auch nicht die Lösung sein, wenn man als grüne Parteienfamilie von den Mitbewerbern und Medien ernst genommen werden will.

Bereits 2009 haben wir Grüne auf der BDK Rostock uns zu einem europapolitischen Mainstreaming bekannt und beschlossen: "Europapolitik darf nicht nur alle fünf Jahre vor den Europawahlen ein wichtiges Thema in der Partei sein. Die europäische Perspektive muss in der Partei sowie in den Fraktionen im Bund und in den Ländern stärker verankert werden." Was damals galt, gilt heute umso mehr.

Berlin, Juli 2014

Annalena Baerbock, Bundestagsabgeordnete und Mitglied im Parteirat von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Anna Cavazzini, Co-Sprecherin Bundesarbeitsgemeinschaft Europa von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Manuel Sarrazin, Bundestagsabgeordneter und stellv. Landesvorsitzender von BÜNDNIS 90DIE GRÜNEN LV Hamburg

Michael Scharfschwerdt, Co-Sprecher Bundesarbeitsgemeinschaft Europa von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

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